[Und schon wieder kein Beitrag von uns selbst, dafür einer von unserem Freund und Mitleser Hörnla - vielen Dank dafür]
Von Hörnla
Sacken lassen. Einfach sacken lassen. Eine Woche lang, eine kleine kurze Woche lang nichts kommentieren, an andere Dinge denken, der Sedimentation ihren Lauf lassen und schauen, was bleibt, wenn das Trübe gewichen ist und sich die Dinge gesetzt haben. Man geht damit durchaus ein Risiko ein heutzutage. Die EM, wann war die nochmal? Irgendein Ereignis der Prähistorie wohl. Kein Titel, nichts Bleibendes. Jetzt gilt es doch schon längst, die Bundesligatransfers zu verfolgen, Sammer hin und Kloppo her, hochspannende Berichte aus den Trainingslagern, der „kicker“ zeigt joggende Spieler vor sommerlicher Alpenkulisse (Wow, so geht also Vorbereitung? Unglaublich!), Rangliste hier und Testspiel da. Die EM? Lang lang ist’s her.
„Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen/Und ihr Ungeziefer, die Vögel fängt an zu schrein“, dichtete Bertolt Brecht dereinst in „Vom armen B.B.“. „To twitter“ heißt gemeinhin ja Zwitschern oder Schnattern und diese Übersetzung gibt in meinen Augen recht präzise wieder, welch gewaltiger Informationsgehalt in dieser extremen und auch in weniger extremen modernen Echtzeit- und Fastechtzeit-Kommunikationskanälen verbreitet wird. Keine Angst, das wird keine übliche Medienschelte, auch wenn das arg „Old School“ daherkommt. Ich drücke hier allerdings schon und lediglich meine Verwunderung darob aus, in welcher Geschwindigkeit jeglicher geistige Dünnpfiff heute abgeschissen werden kann. Das beeindruckt ab und an doch, auch wenn man als Profi natürlich weiß, dass in Zeiten des extremen Zeitdrucks natürlich die Texte für alle wesentlichen Ausgänge zum Beispiel eines Fußballspiels bereits vorher fix und fertig in der Schublade liegen. Aber auch wenn sich die daran Beteiligten immer so furchtbar innovativ und furchtbar wichtig vorkommen: dass zwischen „Hosianna“ und „Kreuziget ihn“ kein weiter Weg ist, das wissen die der abendländischen Tradition Bewussten schon seit gut 2000 Jahren. Was man leider vergessen zu haben scheint, was aber, wenn ich recht orientiert bin, bereits die alten Griechen wussten: wenn es etwas werden soll mit dem Nachdenken, mit dem Sich-eine-Meinung-bilden in der Diskussion, dann braucht man dazu Muße und dazu braucht man wiederum Zeit. So, genug der Vorrede. Kommen wir zu den Griechen in der Europameisterschaft (man beachte die meisterliche Überleitung).
Es gibt gewisse Topoi, die immer wieder und immer wieder gerne aufgerufen werden, wenn man vom Rathaus kommt, mithin schlauer ist. Zum Beispiel, dass die Griechen der leichteste Gegner waren, den die deutsche Mannschaft erwischen konnte. Ähnliches dürften sich bereits die Polen gedacht haben oder die Russen, die aber, oho oho, dann von den Griechen in der Vorrunde ausgeschaltet wurden. In meinen Augen mangelt es da an Respekt. Respekt, den eine niederländische Mannschaft, um nur ein Beispiel zu nennen – da sind ja so viele Stars dabei – immer a priori zugebilligt bekommt und den sie auch nicht verliert, wenn man mit 0 (in Worten: null!) Punkten auf dem Konto nach der Vorrunde nach Hause fährt. Griechenland kann dagegen wohl noch zehn Mal die EM gewinnen, das ist ein schwacher Gegner. Punktum.
Ein schnell gefälltes und im Wesentlichen unwidersprochen gebliebenes Blitzurteil folgte der EM auf dem Fuß: nichts Neues unter der Sonne, nichts Neues taktisch, usw. usf. Abhaken. Das finde ich, in Bezug auf das Spiel, nun ganz und gar nicht oder zumindest in dieser Pauschalisierung unrichtig und habe das andernorts auch bereits zu analysieren versucht (http://www.clubfans-united.de/2012/06/22/die-philosophie-der-berechenbarkeit/) Außerdem: da gab es doch ganz erhebliche Neuerungen. So zum Beispiel die Tatsache, dass die Verantwortlichen bei der Bildregie der so genannten Live-Übertragungen offenbar unter Rückgriff auf Muster aus Tragödie und Mythos Märchenspiele inszenieren anstatt live zu übertragen. Wir alle wissen, dass spätestens seit Photoshop und Konsorten verbunden mit der Auflösung des Originals in der digitalen Photographie dem Bild keinerlei dokumentierender Wert mehr zukommt. Alles schön und gut – aber im Hinterkopf hatte und hat man doch irgendwie noch, dass, trotz all der Kameras und Schnitte und Bildregie und so weiter, dass die Fernsehberichterstattung einem doch irgendwie ein im wesentlichen „wahres“ (Wahrheit – ogottogott, aber man weiß hoffentlich, wie’s gemeint ist) Bild der Geschehnisse vermittelt. Na gut, eigentlich könnte man wissen, dass das mit dem „live“ so eine Sache ist, immerhin könnte bei zu viel „live“ ja wieder mal ein Nippel einem Bustier entkommen, so (natürlich völlig ungewollt und ungeplant) geschehen, bei einer Oskar-Verleihung (in Bezug auf die beteiligten Personen und näheren Umstände hat die gütige Lethe bereits an mir ihr Werk getan). Auch wenn wir beim Herrenfußball sind – dem Zufall des Spiels dasselbe überlassen? Gott bewahre – womöglich überreißen Legionen von Faschingsfans dann zu oft, dass Fußballspiele auch und gar nicht mal so selten stinkend langweilig sein können. Nein, wo rasante Schnitte nicht mehr ausreichen, um einem anämischen Gegurke Leben und Rasanz und angebliche Athletik einzuhauchen, da kann man es ja mit Einsprengseln versuchen dergestalt, dass ein Bundestrainer während des Spiels offenbar locker genug ist, einem Balljungen das Bällchen schalkhaft zu entwenden oder dass zur Halbzeit eine deutsche Fanin bereits durch ihre Tränen zeigt, dass sie dabei ist, alle Hoffnung fahren zu lassen. In der „SZ“ stand ein Interview zu lesen mit irgendeinem Medienprofi, der bereits führend an der medialen Aufbereitung mehrerer hochkarätiger Sportereignisse beteiligt war und dieser Herr zeigte völliges Unverständnis dafür, dass man Unbehagen empfinden, ja dass man sich verwundert zeigen könnte angesichts einer Live-Berichterstattung, die gar nicht mal so „live“ ist. Die gesendeten Geschehnisse seien doch passiert und es sei doch Sache des künstlerisch Verantwortlichen sie zu senden, wenn es denn passe. Basta. Aha. Damit befindet sich der gute Mann medientechnisch sicherlich im 21. Jahrhundert, semiotisch, in Bezug auf den Stand des Nachdenkens über die Zeichen und ihre Bedeutung aber irgendwie zur Zeit der Völkerwanderung. Kurz gesagt: nicht technisch aber theoretisch ließe einen derartigen Gimpel jeder Akteur von Ecos Rosenroman locker aussteigen. Über 1500 Jahre abendländische Geistesgeschichte, um dann bei sowas anzukommen. Grauslich! Das wäre mal ein Kritikpunkt, an dem anzusetzen sich lohnte. Aber dann müsste man vielleicht auch darüber nachdenken, warum die Politiker ihre wegweisenden und wichtigen und potentiell unbeliebt machenden Entscheidungen gerne während solcher Großereignisse wie WM oder EM auf den Weg bringen. Die inszenierte sportliche Mär, sich hemmungslos an den Erzählmodellen von Tragödie bis Mythos bedienend, muss perfekt sein – dann ist einem der Rest scheißegal. Aber auch das wussten bekanntlich bereits die alten Römer.
Die meisten, die bei einem Großereignis wie der EM die Spiele („der Deutschen“ natürlich) verfolgen, wissen nichts. Nichts vom Fußball, nichts von der Schönheit des Spiels, nichts von der oft genug enervierenden Langweiligkeit desselben Spiels. Was aber alle wissen: Titel sind gut. Titel müssen her, so äußert sich die sportliche Leitung vorher, Titel sind toll, wir sind reif für Titel. Das schöne Spiel? Wer erinnert sich noch an die üblen Auftritte der deutschen Nationalmannschaft unter Trainerdarstellern wie Ribbeck und Völler, wem sind diese bleiernen Zeiten noch im Gedächtnis, wer kann noch Dank empfinden, dass das spätestens seit den Zeiten von Klinsmann und Löw in der Regel nicht mehr gilt? Mit den paar, die sich daran erinnern – und hier beginnt meine Kritik an der Kritik von Arnd Zeigler – kann man keinen Staat machen. Mit den paar, die sich dann auch fanden zum Finale-Gucken, als die Mehrheit die EM längst abgehakt hatte, als Fehlschlag, als Ärgernis, als einzige Enttäuschung, mit den paar, die – ein wenig Gerechtigkeit gibt es dann doch noch auf dieser Welt – in den Genuss eines der besten Spiele des Turniers kamen, mit den paar kann man den Fußballzirkus, den wir alle inzwischen gewohnt sind, nicht finanzieren. Um es noch klarer zu sagen: die von Zeigler angeprangerte Respektlosigkeit des Sportgroßinquisitors „BILD“, um nur ein wüstes Beispiel zu nennen, ist nichts anderes als die andere Seite der Medaille, die eine derartige Aufmotzung eines Fußballturniers erst möglich gemacht hat. Die eine ist aber ohne die andere Seite nicht zu haben.
Es ist etwas, an das wir in unserer selbstverantwortungslosen, klagelüsternen Kuschelwelt ungern erinnert werden, aber es ist trotzdem wahr: alle Dinge haben ihren Preis. Man muss für alles bezahlen. Wer 27000 Kameras ist Stadion will, 20 Schiedsrichter und künftig auch noch GoalRef und HawkEye, wer Stars will und Begeisterung und Hype und Autokorsos und nochmal Begeisterung und immer wieder wiederholbare Sommermärchen, wer all das finanzieren will, der kann das nicht nur mit Leuten tun, die sich über Raute oder Nicht-Raute den Kopf zerbrechen und durchaus schon mal ein Spiel am heimischen Fernseher ansehen und die den TV auch nicht zwei Stunden vor Anpfiff einschalten und erst drei Stunden danach ausmachen. Wer will, dass all die Verbände, Spieler, Trainer, Unterstützungsteams, Medienanstalten, Werbeagenturen, Sportartikelhersteller, Gastronomen, Brauereien bis hin zu den Servicekräften in den Kneipen ihr Geld verdienen, der braucht nicht das Spiel, der braucht den Event. Der muss Leute, die sich nicht die Bohne für Fußball interessieren, dazu bringen, sich ein Trikot zu kaufen, sich anzumalen, als wäre schon Fasching, sich stundenlang in der glühenden Sonne beim Public Viewing mit überteuerten Getränken besinnungslos zu saufen. Dann kann man solche Turniere, dann kann man solche Gehälter finanzieren, dann kann man solche (Un-)Summen bewegen. Wer also jetzt im Nachhinein A sagt, sprich: böse böse „BILD“, die in seltener Häme und Respektlosigkeit unsere Nationalspieler abledert, der muss auch B sagen und vorher (!!!), ja weit vorher die Stimme erheben, wenn wochenlang gelobhudelt wird, wenn jeder Pups aus dem Nationalmannschaftshauptquartier berichtenswert erscheint, wenn plötzlich wichtig ist, dass der Schweini nicht mehr Schweini sein will und dass der Özil die Merkel, die in Bezug auf Anbiederung ja keinerlei Schamgrenze kennt, cool findet und dass den Gomez grad was zwickt und was der Philipp grad so denkt. Wer kritisiert, dass nun gehöhnt wird, Lahm spreche wie ein Politiker, der erhebe bitteschön seine Stimme auch, wenn wochenlang jedes ebenso politikereske Statement sendens- und schreibenswert erscheint, wenn wochenlang Nullnachrichten stundenlang ausgewalzt werden und wenn alle Kanäle des Äthers mit diesen Absonderungen von Menschen, die zuletzt tatsächlich an ihre eigene Bedeutung glauben, vollgemüllt werden. Wer das eine verdammt, sollte zum anderen auch nicht schweigen. Oder, was wahrscheinlich das Klügste wäre: beides ignorieren. Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. In zwei Jahren bei der WM werden wir eine weitere Steigerung des Hypes erleben. So ist das halt.